11. März 2024

„Mitgefühl, Achtsamkeit, Wertschätzung und absolute Präsenz.“

Wenn Nicola Schultheiß mit ihrem Fahrrad unterwegs ist zu ihren Hausbesuchen, hat sie ein Köfferchen dabei oder, besser gesagt, zwei: eines mit etwas Equipment, hinten aufs Fahrrad geschnallt, und eines mit ganz viel Equipment, das sichtbar wird, wenn sie angekommen ist. An zwei Tagen wird Nicola ab April im Hospiz am IK sein, um unsere Gäste zu besuchen, ihnen zuzuhören und um Wünsche und Anliegen zu erfüllen: „Der eine Gast möchte gerne wieder einmal selbständig essen, der andere seine Morgenroutine allein bewältigen“, erzählt die Ergotherapeutin, die sich mit ihrem jetzigen Tätigkeitsfeld einen Berufswunsch erfüllt hat.

„Manchmal ist es einfach nur das Einpflanzen einer Blume im Zimmer, das gute Erinnerungen hervorruft und anknüpft an eine ehemalige Leidenschaft als Hobbygärtner. Oder es geht darum, diffusen belastenden Gefühlen wie Ängsten oder Trauer einen kreativen Ausdruck zu geben und sie somit „begreifbarer“ zu machen. Die Wünsche sind sehr verschieden.“ Am Anfang jeder Behandlung steht auch erst einmal das Herausfinden, was unterstützen kann – es geht um den jetzigen Moment: „Als Erstes sehe ich mir den Menschen in seiner Ganzheit an und lasse mich ganz auf ihn und seine Wünsche ein. Denn die nächste Begegnung kann schon ganz anders sein. Die Bedürfnisse der Patienten sind von Tag zu Tag verschieden. Das erfordert sehr viel Kreativität und ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen.“ Immer gehe es jedoch darum, die Ressourcen aufzuspüren und die Anteile des Patienten zu stärken, in denen gerade Defizite bestehen. „Ziel ist der Erhalt der bestmöglichen Lebensqualität und Selbstständigkeit“, beschreibt die 48-jährige das Ziel ihres Tuns. „Im Umgang mit Tod und Sterben geht es meistens um das Stabilisieren des gesundheitlichen Zustands und um das Lindern von körperlichem und seelischem Leid.“

„Ich bin ein Gegenüber, das für alle Fragen offen ist“, erzählt Nicola mit einer ihrer Stimme innewohnenden Begeisterung.

Als Ergotherapeutin in einem Hospiz zu arbeiten, ist bisher ein relativ neuer Fachbereich im egotherapeutischen Behandlungsangebot. In ganz Deutschland kenne sie bislang nur noch eine weitere Kollegin mit derselben fachlichen Ausrichtung, die in einem Tageshospiz tätig ist. In Hamburg jedenfalls ist sie die erste und wahrscheinlich noch einzige, die mit erwachsenen Menschen in Hospizen arbeitet.

Den Wunsch, mit schwerstkranken und sterbenden Menschen zu arbeiten, habe sie schon länger mit sich getragen, als es vor rund einem Jahr über eine Palliative Care-Weiterbildung bei der Diakonischen Fort- und Weiterbildungsakademie (DFA) zu dem Kontakt mit Bettina Orlando kam. „Als Zeitspende habe ich im Hospiz am IK hospitiert und war gleich begeistert von der wertschätzenden und vertrauensvollen Atmosphäre, die dort deutlich zu spüren war. Das hat den Weg geebnet und in mir den Wunsch wachsen lassen, dass ich hier ergotherapeutisch arbeiten wollte.“

Auf ärztliche Verordnung kommt Nicola nun als „Satellit“– wie sie sich selbst beschreibt – von der alto-praxis für Ergotherapie zu ihren Gästen. Die alto-praxis ist eine „Tochter“ des Nussknacker e.V. und ist spezialisiert auf die Behandlung von Erwachsenen mit seelischen Erkrankungen. In Hamburg geboren, machte Nicola in ihrer Heimatstadt auch ihre Ausbildung zur Ergotherapeutin – „Ihrem“ Beruf, in dem sie seit 23 Jahren arbeitet: zuerst in der Neurologie eines Unfallkrankenhauses, dann 19 Jahre im offenen Bereich einer Einrichtung, die ASP (ambulante Sozialpsychiatrie) anbietet, wo sie unter anderem Arbeitsgruppen zur Stärkung der Selbstwirksamkeit angleitete. Ihre ersten Begegnungen mit der Hospizarbeit hatte sie als ehrenamtliche Hospizbegleiterin bei der Diakonie Alten Eichen.

Was fasziniert sie an ihrer Arbeit und warum will sie unbedingt im Hospiz sein?
„Es ist eine sehr bereichernde Erfahrung, mit Menschen in diesem hoch sensiblen Bereich zu arbeiten. Jede Begegnung ist einzigartig und ganz besonders, die Patienten schenken mir ihr Vertrauen und haben Interesse an dem ergotherapeutischen Behandlungsangebot. Die Geschichten sind so verschieden, wie die Menschen, die mich an ihrem Leben teilhaben lassen. Ich sehe genau hin: Wo hat derjenige seine Kraftquellen und Stärken? Was hat ihn oder sie früher, vor seiner Erkrankung, ausgemacht? Was war ihm wichtig?“

„Im Hospiz ist alles sehr fokussiert auf den Moment. Und auf die Einheit Körper – Geist – Seele.“

Gerne arbeite sie auch mit dem Wissen aus ihrer Akupressur-Weiterbildung „Begleitende Hände“: „Diese sanfte Methode kann typische palliative Symptome wie Angst, Unruhe, erschwerte Atmung und Übelkeit lindern und das Wohlbefinden steigern.“

Wichtig ist ihr auch, „die spirituellen Anteile des Menschen zu berücksichtigen, die Einheit von Körper, Geist und Seele im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung wahrzunehmen“ und in dieser schweren Phase des Lebens auch die psychosozialen Aspekte zu berücksichtigen, die Fragen des Lebens und des „Selbst“ berühren, wie „Was ist der Sinn meines Lebens?“ oder „Was macht mich aus, was gibt mir Kraft?“

„Mitgefühl, Achtsamkeit, Wertschätzung und absolute Präsenz, immer wieder ganz genau hinschauen...“

...das sei ihr sehr wichtig und beschreibe ihre Haltung in der Palliativen Arbeit, sagt sie.

Manche Lebens-Geschichten und Begegnungen bleiben im Gedächtnis. Nicola erzählt von einem alten Herrn, der zur See gefahren ist und die Welt bereist hatte. Als sie ihm eine Landkarte mitbrachte, zeigte er ihr, wo er überall gewesen war und landete irgendwann mit dem Finger auf New Orleans. Plötzlich war die Erinnerung wieder da: an eine Bar und das Lied „Basin Street Blues“ von Louis Armstrong. Sie spielte es ihm auf dem Handy vor. Ihm kamen die Tränen… „Die Erinnerungen waren plötzlich wieder ganz lebendig und haben ihn sehr berührt. Ihm war das Erlebte in diesem Moment wieder ganz präsent. In diesem Augenblick hat er ein Stück seines Lebens mit mir geteilt und das war für mich wie ein Geschenk.“

Und woher nimmt Nicola ihre Energie? Als leidenschaftliche Fahrradfahrerin ist die Mutter eines erwachsenen Sohnes gern in der Natur unterwegs, und „gräbt“ auch gerne in der Erde im Schrebergarten ihrer Mutter in Groß-Borstel. „Meine spirituelle Kraftquelle und Ladestation sind die Natur, der Wald, meine Familie und meine Freunde.“

Zurück